Eineiige Zwillinge gelten als genetisch nahezu identisch und unterscheiden sich in ihren Körpermerkmalen grundsätzlich nicht. Forschungsbestrebungen dazu werden normalerweise den Bereichen Humangenetik und Psychologie zugeordnet. Doch seit 1980 spielt die Zwillingsforschung auch am Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP eine Rolle – auch, wenn die daraus gewonnenen Ergebnisse eher in der Baubranche auf Interesse stoßen als in der Biologie. Auf dem Freilandversuchsgelände des Standorts Holzkirchen befinden sich hierfür zwei vollständig baugleiche Häuser in typischer Einfamilienhausgröße: die sogenannten Zwillingshäuser. Damit haben die Forscher am Fraunhofer IBP die Möglichkeit, Vergleichsmessungen von unterschiedlichen Gebäude-, Dämm- und Heizungssystemen vorzunehmen und das in situ (lat.), also vor Ort, unter identischen Klimabedingungen. Beide Häuser sind freistehend und von den Himmelsrichtungen gleich ausgerichtet. Diese Versuchseinrichtung wissen vor allem die Mitarbeiter aus der Abteilung Energieeffizienz und Raumklima besonders zu schätzen.
»Die Gebäude werden seit ihrer Erbauung laufend auf den aktuellen energetischen Stand gebracht«, erklärt Dr. Ingo Heusler, Wissenschaftler in der Arbeitsgruppe Evaluierung und Demonstration. »Die Statik der Häuser erlaubt einen vollständigen Austausch der Außenbauteile, so können diese relativ einfach an die entsprechenden Anforderungen für die jeweiligen Untersuchungen angepasst werden.« In der Regel werden in Zusammenarbeit mit Industriepartnern Versuchsszenarien für das Testhaus und das Vergleichshaus (Referenzhaus) festgelegt, die dazu dienen neuartige Komponenten oder Systeme weiter zu entwickeln, zu optimieren oder mit Referenztechniken zu vergleichen. Die versorgungstechnische Ausstattung der Zwillingshäuser besteht aktuell jeweils aus einer Gasbrennwerttherme, Radiatoren- und Fußbodenheizung sowie Lüftungs- und Kühlanlage. Im Erdgeschoss gibt es Küche, Bad/WC, ein Wohnzimmer und einen Flur sowie zwei Schlafräume. Die Grundfläche beträgt jeweils zehn auf zehn Meter.
Im Sommer 2013 führten Heusler und seine Kollegen beispielsweise in situ Messungen für ein Projekt der
Internationalen Energieagentur (IEA) durch. Die IEA ist eine Kooperationsplattform, die bereits in den 1970er Jahren gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, Forschung, Entwicklung, Markteinführung und Anwendung von Energietechnologien zu fördern.
Eine zuverlässige Beschreibung und Vorhersage des energetischen Verhaltens von Gebäuden ist ein wichtiger Baustein, um deren Energieeinsatz überhaupt reduzieren zu können. Die Quantifizierung des realen Gebäudeverhaltens, die Überprüfung bestehender Rechenmodelle und die Integration neuer, innovativer Lösungsansätze für Niedrigstenergiegebäude kann effektiv nur durch in situ Versuche und dynamische Datenanalysemethoden vorangetrieben werden. Im Rahmen eines Teilprojektes, mit Namen
IEA EBC Annex 58 (Laufzeit 2012 bis 2015) wurde unter anderem Simulationssoftware zur Berechnung von Energieverbräuchen in Gebäuden validiert und optimiert. Dazu maßen die Fraunhofer-Forscher über einen Zeitraum von rund zwei Monaten das energetische Verhalten der beiden Gebäude unter realen Randbedingungen. Dabei ermittelten die Wissenschaftler in dem einen Haus die Verbrauchs- und Temperaturwerte bei offenem, bei dem anderen mit geschlossenem Rollladen an der Südfassade. »Bisher wurde das thermisch-energetische Verhalten eines Referenzgebäudes für die Software-Validierungen in der Regel über Simulationsberechnungen an einzelnen Räumen generiert. »Mit unseren Zwillingshäusern konnte erstmals das Gebäude als Ganzes betrachtet werden«, so Heusler. Die Gewährleistung einer geeigneten Testumgebung und -auswertung, angefangen von der Bereitstellung des realen Gebäudes über die erforderliche Sensorgenauigkeit und den richtigen Einbau der Sensorik bis hin zur eigenentwickelten Datenerfassungs- und Auswertesoftware
IMEDAS , gehören mitunter zu den Kernkompetenzen des Fraunhofer IBP. Parallel zu den in situ Messungen hatten Anbieter und Anwender von Simulationssoftware ihre Berechnungen mit den gleichen Parametern angestellt. Die in Workshops und Seminaren erarbeiteten Ergebnisse aus dem Vergleich der berechneten Daten mit den Freilandmessungen und den daraus resultierenden optimierten Simulationsmodellen sind im von der IEA veröffentlichten Abschlussbericht zusammengefasst.
Doch die Zwillingshäuser können noch mehr. »Seit der Eröffnung wurden bereits eine Vielzahl an Industrieaufträge sowie unterschiedliche nationaler und internationale Forschungsprojekte durchgeführt«, resümiert Ingo Heusler. Energiesparende Hauskonzepte, insbesondere passive Solarenergienutzung sowie verschieden orientierte Glasvorbauten und transparente Wärmedämmsysteme gehören beispielsweise ebenso zu den Untersuchungsschwerpunkten der Versuchseinrichtung wie die Untersuchung von bedarfsgeführten Lüftungssystemen mit und ohne Wärmerückgewinnung, von Wand-, Fenster- und Dachsystemen oder von unterschiedlichen heiztechnischen Anlagen, Komponenten und Steuerungskonzepten sowie Radiator- und Fußbodenwarmwasserheizungen. Im Rahmen von Forschungsprojekten werden außerdem vergleichende Untersuchungen von Dachaufbauten und das thermische sowie energetisches Verhalten von Steildächern mit IR reflektierenden Dämmmaterialien beziehungsweise Mineralwolldämmung untersucht. Auftraggeber aus der Industrie möchten zum Beispiel ihre Produkte testen lassen, bevor sie diese auf den Markt bringen. Die Zwillingshäuser bieten in diesem Zusammenhang die Chance, das neue Produkt unter realen Bedingungen und im Vergleich zu bereits am Markt verfügbaren Standardprodukten testen zu lassen. (taf)