Verbindungen von Physik und Musik, von Wissenschaft und Kunst durch die Forschungsorgel am Fraunhofer IBP

Forschung im Fokus Januar 2012

Besuchern, die einen Laborrundgang am Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart machen, kann es in der Abteilung Akustik durchaus passieren, dass sie sich mitten in einem Orgelkonzert wiederfinden. Eine Orgel an einem Institut für Bauphysik? Das lässt so manchen staunen. Dahinter steckt die Wissenschaftlerin Dr. Judit Angster – keine Organistin, wie man vielleicht meinen möchte, sondern Physikerin von Beruf. Sie hat sich der wissenschaftlichen Orgel- und Kirchenakustik sowie der Erforschung europäischer Musikinstrumente mit Leib und Seele verschrieben. Eigens für die Erforschung von Klang und die Erprobung von Klangideen steht ihr und ihrem Team jetzt eine Forschungsorgel zur Verfügung. »Es ist eine wunderbare Aufgabe, dazu beizutragen, das Wissen um den Klang und alles, was damit zusammenhängt, zu erforschen und weiterzuentwickeln«, sagt Judit Angster mit Begeisterung.


Seit Jahrhunderten gilt die Orgel als die Königin der Instrumente. Sie ist das größte und in der Ausstattung prächtigste Musikinstrument. Auch deswegen ist das Spielen auf ihr nicht leicht zu erlernen. Aber ihr unvergleichlicher Klang hat an Tiefe und Höhe mehr Umfang, als alle anderen Instrumente, wie Judit Angster erklärt: »Prinzipiell ist jede Orgel im Vergleich zu anderen Musikinstrumenten ein Unikat, das hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinung und klanglichen Aussage absolute Individualität beanspruchen darf. Was den Reichtum ihrer Klangfarben, den Tonumfang und die Dynamik ihrer Lautstärke betrifft, so kann allenfalls ein Orchester zum Vergleich herangezogen werden.«
Diejenigen, die gerne Kirchenkonzerte besuchen, wissen aus eigener Erfahrung, jede Orgel klingt anders. Viele Faktoren beeinflussen die Klangqualität. Das fängt an beim Material der Orgelpfeifen – sind sie aus Holz oder Metall? – und geht bis zur Raumgröße, die entscheidenden Einfluss auf die Akustik hat (Bemessungsverfahren zur Anpassung der Pfeifenorgel an die Akustik).
Wichtig ist auch, wie die Druckluft zirkuliert – bei der Orgel nennt man sie übrigens Wind – denn sie bringt die Orgel bzw. die Pfeifen zum Klingen und beeinflusst damit ebenfalls ihren Klang. Alle Orgelpfeifen, und das können mitunter mehrere tausend sein, müssen klanglich optimiert eingestellt und so an den Raum angepasst werden, dass sie weder zu laut noch zu leise klingen und sich eine schöne Klangmischung ergibt. Jede Pfeife muss entsprechend dimensioniert sein, damit sie den richtigen Klang hat. Fachleute nennen das Mensuration. Durch Intonation wird nach Ermessen der jeweiligen Orgelbaufirma der schöne Klangcharakter einer Pfeife bestimmt (Dimensionierung von Orgelpfeifen).

Man könnte mit der Forschungsorgel trotz der schwierigen Raumakustik – sie befindet sich nicht wie üblich in einer Kirche, sondern in einem relativ kleinen Raum – Konzerte geben, aber besondere Merkmale prädestinieren sie für ihren Hauptzweck: die Untersuchung von technischen und klanglichen Fragen. Auffallend an der Orgel ist zunächst ihre transparente Gestaltung. Doch auch das hat seinen Grund: Damit kann jeder dem Instrument sozusagen mitten ins Herz sehen und die sichtbare Technik sowie die komplexe Funktionsweise studieren. Auch das Windsystem der Orgel – das ist ihre »Lunge« – ist etwas Besonderes. Es kann von einem »traditionellen« auf ein innovatives System umgeschaltet werden, das den Winddruck im Gegensatz zur »herkömmlichen« Lösung direkt an der Windlade regelt, um Druckverluste und Druckschwankungen zu vermeiden, die den Klang der Orgel nachteilig beeinflussen könnten.
Zudem ist eine Windlade des Hauptwerks austauschbar. Die Windlade ist jene Apparatur, auf der die Pfeifen stehen und durch die sie mit Wind für die Klangerzeugung versorgt werden. Durch die Austauschbarkeit können neuartige Ventile und Pfeifenanordnungen erprobt werden. Ebenso erlauben die Pfeifenstöcke einen späteren Tausch für Versuche mit neuartigen Pfeifenformen. Damit können neue Klangideen erprobt und hörbar gemacht werden.
Dank ihrer speziellen Konzeption ermöglicht die Forschungsorgel jetzt Untersuchungen direkt am Objekt und erleichtert damit die Arbeiten der »musikalischen Akustiker« erheblich. Denn langfristige Messungen an einer fest installierten Orgel gestalten sich mitunter schwierig. Zudem lässt sich eine Orgel nicht so einfach ab- und wieder aufbauen. Bislang haben die Forscher Arbeitsschritte gesondert im Labor an Orgelmodellen untersucht. Auch neu entwickelte Teile wurden so im Labor an Modellen getestet. Ein Beispiel ist die Stiftskirche in Stuttgart, wo ein Teil eines neuen Windsystems umgesetzt wurde (Entwicklung neuartiger Windsysteme für Orgeln).
»Aber irgendwann möchte man ein Modell aus dem Labor auch in die Praxis umsetzen«, sagt Judit Angster. »Deshalb haben wir diese Forschungsorgel von der renommierten Werkstätte für Orgelbau Mühleisen, Leonberg, bauen lassen.« »Mein Traum ist, dass unsere Forschungsorgel dahin wirkt, neue Verbindungen von Physik und Musik, von Wissenschaft und Kunst entstehen zu lassen, zum Nutzen und zur Freude von Menschen«.
(schw)

 

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