Welch praktische Eigenschaft Multitasking ist, erleben viele von uns fast täglich im Job oder in der Familie. Doch nicht nur Menschen sind in der Lage mehrere Dinge zeitgleich zu erledigen. Dieser Grundgedanke liegt auch häufig den Überlegungen von Forschern des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP zugrunde. Eine ihrer wesentlichen Fragen lautet: Wie können Gebäude und ihre Einzelteile vielfältiger und gezielter eingesetzt werden? Fassaden beispielsweise sollen nicht nur einfache Hüllen zum Schutz vor der Witterung sein, sie sollen unter anderem dazu beitragen das Raumklima zu verbessern, die Energieeffizienz eines Gebäudes zu steigern oder lästigen Aufwuchs an der Außenwand zu verhindern. Aus diesem Grund sind innovative Lösungen für schlaue Fassaden das Ziel gleich mehrerer Abteilungen des Fraunhofer IBP.
Wie wichtig es ist, sich bereits im Vorfeld eines Bauvorhabens mit der Funktionalität einer Fassade bzw. der verwendeten Materialien auseinander zu setzen, zeigt die leider immer wieder notwendige Nachrüstung. Es reicht meist nicht, alleine eine ansehnliche Fassade zu errichten. Der Komfort der Gebäudenutzer sowie die Energieeffizienz des Gebäudes spielen eine weitaus größere Rolle. Um nicht im Nachhinein Lehrgeld in Form von Nachrüstungen oder unnötigen Reparaturen zahlen zu müssen, können zum einen dynamische Gebäudesimulationen und zum anderen so genannte Mock-Ups (Nachbauten) helfen. So haben Sinnesbichler und seine Mitarbeiter beispielsweise für die neue, geplante Zentrale eines Unternehmens an einem technischen Mock-Up in der
Versuchseinrichtung für energetische und raumklimatische Untersuchungen (VERU) die energetischen, lichttechnischen und komfortbezogenen Einflüsse der Fassadenkonstruktion messtechnisch untersucht. Der Grund dafür war, dass mit einer hermetisch gedichteten Glasdoppelfassade eine relativ neue Fassadenentwicklung bei dem Neubau zum Einsatz kommen sollte. »Wer einen Neubau wie zum Beispiel einen großen Büroturm plant und sich dabei nur auf das Reißbrett und Simulationen verlässt, geht ein gewisses Risiko ein«, erklärt der Diplom-Ingenieur. »Mit einem Mock-Up wird unter anderem die Funktionsfähigkeit nachgewiesen, es können Aussagen über das Raumklima getroffen werden und zusätzlich werden die gewonnen Messdaten dafür genutzt, die ergänzenden Simulationsmodelle zu optimieren.«
Ebenfalls unter realen Bedingungen testen die Wissenschaftler des Fraunhofer IBP im Großmaßstab innovative Einsatzmöglichkeiten von Materialien. Phasenwechselmaterialien (engl. Phase Change Material, PCM) kennen wir in Form von Kühlakkus oder Wärmekissen. PCM lassen sich aber auch in Fassaden integrieren und fungieren so als Wärme- bzw. Kältespeicher. Tagsüber heizen sie sich auf, entziehen der Umgebung Wärme und geben diese nachts – während sie herunterkühlen – ab. »In Kombination mit einer dezentralen Lüftungsanlage können PCM zum Abkühlen der Zuluft genutzt werden«, erläutert Sinnesbichler die Vorteile dieser Technologie. Auf diese Weise wird die Energieeffizienz eines Gebäudes mit dezentraler Lüftungsanlage gesteigert. Erfolgreich umgesetzt und untersucht haben die IBP-Forscher dieses Zusammenspiel von PCM und Lüftungsanlage in der Fraunhofer-Einrichtung
inHaus-Zentrum für Wohn- und Nutzimmobilien in Duisburg. »Phasenwechselmaterialien gibt es in den unterschiedlichsten Varianten und sie können ganz vielfältig eingesetzt werden, nicht nur im Bau«, erklärt Sinnesbichler. So ist beispielsweise die Idee für eine PCM-Tasse entstanden, die Getränke immer auf die optimale, das heißt trinkbare Temperatur bringt.
Energie an Fassaden zu gewinnen, zu speichern und effektiv zu nutzen, ist ein Feld, das Herbert Sinnesbichler in Zukunft gerne weiter ausbauen möchte. »Leider ist dieses Thema derzeit sehr reduziert auf die Photovoltaik, doch man könnte technologisch so viel mehr umsetzen«, sagt der Fraunhofer-Ingenieur. Eine weitere Option ist die Nutzung von Fassaden zur Gebäudekühlung. Möglich wäre das in der Kombination mit wasserdurchströmten Photovoltaikelementen. Dieses System wurde bislang lediglich zur Energiegewinnung genutzt, die Kühlung des Betonkerns wäre damit aber ebenso möglich. »Mehr Technik in der Fassade und damit letztlich mehr bauphysikalische Möglichkeiten umzusetzen, ist immer eine gute Idee«, ist Sinnesbichler überzeugt. Leider scheitere die Umsetzung jedoch noch häufig an der Beteiligung zu vieler unterschiedlicher Gewerke auf der Baustelle. »Wir arbeiten derzeit gemeinsam mit Partnern aus der Industrie an einer Lösung dieses Problems. Ist die gesamte Technik nämlich bereits in vorgefertigten Fassadenelementen untergebracht, sind auf der Baustelle keine zeit- und kostenintensiven Abstimmungen der unterschiedlichen Fachfirmen mehr nötig«, erklärt Sinnesbichler.
Die Möglichkeiten für schlaue Fassaden sind in vielerlei Hinsicht noch nicht annähernd ausgeschöpft. So erforschen die Fassadentechnik-Spezialisten gemeinsam mit ihren Kollegen aus der Biologie Wege zur Biomassenproduktion an Fassaden. Was in speziellen Algenfarmen bereits funktioniert, kann schließlich auch auf die vertikale Gebäudehülle ausgeweitet werden.
Um Biomasse an der Fassade geht es bildlich gesehen auch bei den Untersuchungen von Dr. Christian Scherer und seinen Mitarbeitern. Die
Gruppe Ökologische Chemie und Mikrobiologie will allerdings unerwünschten Aufwuchs an Gebäudehüllen, wie von Algen und Pilzen, vermeiden. Deswegen testen sie beispielsweise regelmäßig für Hersteller die Wirksamkeit von Fassadenbeschichtungen. Langzeituntersuchungen an einzelnen kleineren Prüfkörpern sowie an den Zwillingshäusern auf dem Freilandversuchsgelände des Fraunhofer IBP in Holzkirchen führen die Wissenschaftler in regelmäßigen Abständen durch. Dabei geht es weniger um die Frage der generellen Wirksamkeit von Bioziden, sondern um ihre
Auswaschung aus den Fassadenbeschichtungen. Hersteller arbeiten konstant an einer Verbesserung. »Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass mikroverkapselte Wirkstoffe weniger schnell vom Regen ausgewaschen werden als nicht verkapselte«, schildert Scherer. »Diese Art von Fassadenbeschichtungen verringert somit zum einen den Eintrag von bioziden Wirkstoffen in die Umwelt und verlängert gleichzeitig die Renovierungszyklen.«
Nach denselben Kriterien untersuchen Scherer und sein Team zahlreiche weitere Komponenten, die an Fassaden zum Einsatz kommen, wie Putz- und Mauermörtel. Ihr Ziel ist, basierend auf Normen oder Normvorschlägen, Verfahren zu entwickeln, die Untersuchungen im Freiland mit den Tests im Labor zusammenbringen. »Anhand des daraus abgeleiteten Bewertungsmodells soll es möglich sein, fundierte Prognosen der Umweltwirkungen abzugeben.«
»Fassaden werden in Zukunft immer mehr Aufgaben übernehmen«, prognostiziert Herbert Sinnesbichler, »zum Beispiel auch im Bereich der Kommunikation«. Integrierte Sensoren werden erkennen, wenn die Bewohner sich nähern und entsprechend der Gebäudetechnik zur Steuerung von Licht, Fenstern, Heizung etc. Meldung geben. Dem Multitasking-Gedanken sind dabei keine Grenzen gesetzt.
(ate)